Schuld und Sühne – vom Körper gespiegelt

Wenn ich mich sehr behutsam dem komplexen Thema der menschlichen Schuld annähere, dann wage ich es erst jetzt, nach intensivem Gedankenaustausch mit Peter Borst, einem Kollegen und nahen Freund. Seine gewährende Güte und Lebenserfahrung schufen einen Raum, in dem ich mich suchend, irrend und langsam begreifend bewegen durfte. Lange Gespräche und dazwischen eingestreute Aufstellungen machten es möglich, dass das Thema allmählich Gestalt bekam.

Schuld hat viele Gesichter.

Gershom Scholem, der jüdische Religionsphilosoph, spricht von einer Schuld des Menschen, seinem eigenen Leben und seiner inneren Bestimmung gegenüber. Wir sind mit einem Auftrag geboren, wir erfüllen ihn oder wir bleiben  uns den Weg der Verwirklichung schuldig.
Hermann Hesse sagt in seinem Roman „Das Glasperlenspiel“ ähnliches:
„Der die Berufung empfängt, der nimmt damit nicht nur ein Geschenk und einen Befehl entgegen, er nimmt auch so etwas wie eine Schuld auf sich“.

Darüber hinaus gibt es eine kollektive Grundschuld des Menschen, der Schöpfung gegenüber. Wir können vollständig werden im Sinne von Gershom Scholem aber nie vollkommen. Wir erreichen das Ziel der Gottähnlichkeit nicht, obwohl wir die Ahnung darum in uns tragen. In diesem Sinne bleiben wir dem Schöpferischen Prinzip etwas schuldig. Und gerade das macht uns Menschen aus. Schuld im weitesten Sinne ist ein Aspekt unserer Reifung und Entwicklung.

Religiöse, politische und gesellschaftliche Denksysteme tragen viel dazu bei, dass wir uns schuldig fühlen, weil wir die Parameter dieser Systeme nicht mehr leben können aber noch davon gefangen sind. Der Perspektivenwechsel hin zu einer eigenverantwortlichen Ethik und Menschlichkeit wäre eine Lösung, ist oft ein langer und schmerzhafter Prozess.

Als Individuen werden wir an uns selbst und an Anderen schuldig in unterschiedlichem Ausmaß. Es gibt Situationen im Leben, in denen wir nicht anders können, als Schuld auf uns zu laden und es gibt Situationen, in denen wir nicht anders wollen. Bewusst werden wir an uns und Anderen schuldig, um Ziele zu erreichen, die sonst unerreichbar wären.
Diese persönliche, als Individuum gelebte Schuld verletzt jene, oben besprochene, tief in uns gegründete selbstverantwortliche Ethik.

Wie gehen wir damit um?

Verdrängung ist ein probates und sehr verbreitetes Mittel. Das kann über Jahre und Jahrzehnte hinweg scheinbar gut gehen, aber es hinterlässt massive Spuren in unserem Körper. In der Tiefe wissen wir um das Verdrängte. Weil wir dieses Wissen nicht zulassen, entsteht Spannung und Druck in uns. Allgemeines Unbehagen, Depressionen und schließlich manifeste Krankheiten sind die Folgen. Oft ist die Flucht in Alkohol und Süchte aller Art ein Versuch, dem Schuldgefühl zu entkommen. Irgendwo in uns wohnt eine Instanz, die den Ausgleich in der Sühne sucht, um das emotionale System zu entlasten. Krankheit als Selbstbestrafung?
Selbstanklage, Selbstgeißelung, die kein Ende findet, ja oft zu einer Lebenshaltung mutiert, ist ein anderer Versuch, mit Schuld umzugehen, der ähnlich ungesund ist, wie der Weg der Verdrängung. Das einzig Konstruktive daran ist die ausgesprochene, die benannte Schuld. Allerdings braucht es einen  Erkenntnisprozess und den Mut, das Erkannte mit Anderen zu teilen. Dieser Prozess  ist hilfreich, wenn er eine Zwischenstation der Schuldaufarbeitung und keine Endstation ist.
Wenn wir uns selbst anklagen, fördern wir zwei Persönlichkeitsanteile, den Ankläger und den Angeklagten in uns. Der Ankläger mit seinem drohend erhobenen Zeigefinger wird mit der Zeit zu einer Karikatur des Über-Ichs, der Angeklagte zu einer Büßerfigur, die auf ihren Knien, nicht wagt, den Blick zu heben. Je kleiner und  grauer der Angeklagte sich fühlt, je unerbittlicher der Ankläger droht und seine Verurteilung erneuert, umso mehr glauben wir, unsere Schuld zu bewältigen. Tatsächlich versuchen wir auf diese Weise, einer wahrhaftigen  Begegnung mit unserer Schuld zu entkommen.
Seit Jahren wird die kollektive Schuldbewältigung der NS-Zeit so gehandhabt Ich frage mich, was das mit den Opfern und Tätern dieser Zeit macht.
Diese Haltung kann zu einem in sich selbst kreisenden Spiel werden, das uns eine falsche Wirklichkeit der Bewältigung vorgaukelt, uns aber von uns selbst und den Anderen trennt, ja isoliert. Uns und die Menschen, an denen wir schuldig geworden sind, haben wir verloren und sie haben uns verloren. Unser Körper hält diese Tortur auf die Dauer nicht aus und reagiert wie im Falle der Verdrängung.

Was also wäre der Weg der Heilung?

Durch den Dialog mit Peter Borst habe ich begonnen, den Weg der Heilung in der Tiefe seiner einzelnen Schritte zu verstehen. Ich erhebe nicht den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, ich schildere nur, was in mir als meine Erkenntnis entstanden ist.

Der erste Schritt ist sicher, die Schuld zu erkennen und zu formulieren. Dadurch gewinnt sie Gestalt und löst sich aus dem Nebel der Verleugnung. Erfahrungsgemäß ist die Schuldgestalt erst manifest, wenn sie Anderen gegenüber als eigene Schuld ausgesprochen wird.
Nun steht sie also vor uns, die Gestalt. Wir wollen sie in dieser Form aber nicht perpetuieren. Wir gehen daher weiter zu dem nächsten Schritt und er ist schwer. Bisher hat weitgehend unser Intellekt gearbeitet. Das heißt, wir können um unsere Schuld wissen ohne wirklich Verantwortung für sie zu übernehmen. Jetzt beginnt die Reise in die Tiefe unserer Persönlichkeit. Dort begegnen wir uns selbst in unseren Gefühlen und auch unserer Anbindung an ein übergeordnetes Ganzes. Dort lassen wir uns jetzt nieder und sprechen aus unserer existenziellen Tiefe das „Ja“ zu unserer Schuld. „ja, ich bin es, ja, ich war es“. Peter nennt das „wir stimmen zu, wir stimmen ein“.
Wenn wir an dem Ort unserer existenziellen Tiefe einstimmen, dann verschwinden Ankläger und Angeklagter und die Schuld verwandelt sich in eine Erfahrung, die uns demütig macht und wach hält. Durch diesen Prozess geschieht Entwicklung. Darum geht es im Sinne der Täter UND Opfer. Nur durch diese Entwicklung sind wir fähig, tatsächlich Verantwortung für unsere Schuld zu übernehmen.
Dieses heilende Einstimmen in das, was war, ist ganz selten nur ein einmaliger Akt. Es ist ein Weg, den wir in seiner ganzen Tragweite erst erlernen müssen. Es ist ein Weg der Lebenskreativität, der es uns möglich macht, uns selbst und den Menschen, an denen wir schuldig geworden sind, auf eine neue und liebende Weise zu begegnen. Ja. auf eine liebende Weise, denn die Liebe, von der wir alle getragen sind, ist Voraussetzung für den ganzen Prozess.
Das rückhaltlose Einstimmen erfordert allerdings noch einen dritten inneren Schritt. Der tief in uns vergrabene Schmerz und die Trauer  über unser schuldig geworden sein, kann sich im letzten nur lösen, wenn wir uns selbst vergeben. Wir lassen es geschehen, dass die allen Menschen zugängliche Kraft der Selbstvergebung, die ein Aspekt der universellen Liebe ist, sich mit uns verbindet.  Erst dann ereignet sich endgültige Befreiung und Verwandlung. Die Anderen mögen uns längst vergeben haben, uns selbst zu vergeben ist erfahrungsgemäß am schwersten.

Was hilft uns, die drei genannten Schritte zu vollziehen?
Der erste Schritt ist ein bewusster Akt des Denkens und braucht keine weiteren Hilfsmittel, außer unterstützende Dialoge mit Menschen unseres Vertrauens.
Der zweite Schritt, der des Einstimmens, kann im Rahmen von Meditationen möglich werden, einsame ruhige Spaziergänge tun gut, viel Stille, Zeit und Liebe für uns selbst wirken Wunder. Geführte innere Reisen und Aufstellungen sind Möglichkeiten der Unterstützung, wenn man Hilfe von außen dazu holen möchte. Diese Hilfe von außen kann zur Vertiefung des Prozesses viel beitragen.
Dasselbe gilt für den dritten Schritt der Selbstvergebung. Die Arbeit mit sich selbst sollte von außen Unterstützung und Begleitung erfahren. Die beiden oben genannten Methoden sind mir am nächsten, weil ich damit arbeite. Sie sind jedoch nur Mosaiksteine in einer Landschaft vielfältiger therapeutischer Möglichkeiten.

Allmählich werden die Zellen unseres Körpers begreifen, dass sich die innere Situation geändert hat, dass wir Andere geworden sind. Unser Körper wird Befriedung erfahren und im Rahmen seiner Möglichkeiten mit Entspannung und Besserung antworten. Der Druck, unter dem unser Körper gestanden ist, hat sich gelöst, die Lebensenergie kann fließen.